Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland
Der Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ hat das Ziel möglichst eine „Gesamtanalyse evangelischer Strukturen und systemischer Bedingungen, die (sexualisierte) Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen“, vorzulegen und somit eine empirische Basis für weitere Aufarbeitungsschritte der evangelischen Kirche und Diakonie zu liefern. Aufarbeitung ist dabei auf die wissenschaftliche Expertise unterschiedlicher Disziplinen angewiesen und benötigt vielfältige Instrumente bzw. Methoden. Forschung im Kontext von Aufarbeitungsprozessen kann Wissen und Grundlagen zur Verfügung stellen, nicht jedoch weitere Schritte der Aufarbeitung und Erinnerung der evangelischen Kirche und Diakonie ersetzen.
Wissenschaftliche Forschung im Kontext von Aufarbeitung soll dabei aufdecken, „in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch in einer Institution stattgefunden hat“ (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, 2019) und welche Ausmaße, Mechanismen und systemische Risikofaktoren für die verschiedensten Formen von sexueller Gewalt an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sich dabei identifizieren lassen.
Daraus ergeben sich für den Gesamtverbund folgende Ziele und Forschungsfragen, welche in den einzelnen Teilprojekten konkretisiert und operationalisiert werden:
- Welche systemischen und organisationalen Faktoren ermöglichen oder verhindern (sexualisierte) Gewalt? Welche Spezifika lassen sich für den evangelischen Kontext identifizieren?
- Welchen Gefährdungs- und Tatkonstellationen waren Betroffene ausgeliefert? Wie wurde mit Hinweisen und Meldungen umgegangen? Welche Merkmale der Beschuldigten lassen sich identifizieren?
- Welche Kennzahlen und Prävalenzen zum Ausmaß der Häufigkeit von Übergriffen und erlebter sexualisierter Gewalt lassen sich ermitteln?
- Welche Ableitungen für weitere Aufarbeitung, Prävention und Schutzkonzepte folgen daraus?
Der Forschungsverbund ForuM
Der Forschungsverbund ForuM zeichnet sich durch eine breite interdisziplinäre Zusammensetzung (Soziale Arbeit, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, forensische Psychiatrie, Sexualwissenschaft, Kriminologie) aus. Das Verbundvorhaben besteht aus fünf Teilprojekten und einem Metaprojekt und perspektiviert die Teilprojekte inhaltlich. Die verschiedenen inhaltlichen Fokusse der avisierten Teilprojekte basieren dabei auf den verschiedenen Strukturebenen sexualisierter Gewalt. Der Forschungsverbund arbeitet dabei nicht ausschließlich explorativ, sondern baut auf bereits vorhandenen Erkenntnissen zu Fragen von sexualisierter Gewalt in Institutionen und im Raum der evangelischen Kirche und Diakonie auf. Koordiniert wird der Forschungsverbund von Prof. Dr. Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover.
Das Metaprojekt EKD im Rahmen des Verbundvorhabens „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ koordiniert den Verbund, integriert bisherige Forschungserkenntnisse, entwickelt Modelle für die weitere lokale Aufarbeitung in einzelnen Einrichtungen, übernimmt die Kommunikation und Kooperation mit Vertreter*innen der Betroffenen sowie der EKD und unterstützt durch öffentliche Wissenschaftskommunikation. Ebenso führt es die einzelnen Ergebnisse der Teilprojekte zusammen und organisiert Beteiligungsmöglichkeiten.
Kontakt: Hochschule Hannover/Prof. Dr. Martin Wazlawik (Verbundkoordinator), martin.wazlawik(at)hs-hannover.de
Das Teilprojekt A: Perspektive „Evangelische Spezifika: Kirche und Gesellschaft“ untersucht Praktiken sexualisierter Gewalt und den institutionellen, kirchlichen, staatlichen und öffentlichen Umgang damit in den Landes- und Gliedkirchen der EKD und nimmt dabei in einer historischen und religionssensiblen Perspektive mögliche evangelische Spezifika in den Blick. Dazu berücksichtigt es, inwieweit entsprechende Fälle von sexualisierter Gewalt in Korrelation zu den politisch wechselnden Umständen in Diktatur und Demokratie stehen und welche gesellschaftlichen Wechselbeziehungen zu berücksichtigen sind. Neben dem spezifischen Fokus bietet das Teilprojekt A eine historische und religionssensible Perspektive auch für die anderen Teilprojekte, welche zur Konzeption der jeweiligen Studien und zur Auswertung von Daten und Material zur Verfügung gestellt wird.
Kontakt: Forschungsstelle Zeitgeschichte Hamburg/Prof. Dr. Thomas Großbölting; grossboelting(at)zeitgeschichte-hamburg.de
Das Teilprojekt B „Organisation und Person“ zielt zum einen auf die Analyse der systemischen Bedingungen sexualisierter Gewalt (Ermöglichung und Verhinderung) in diakonischen Einrichtungen und in der verfassten Kirche und zweitens auf die Analyse der bisherigen Praxis organisationaler Aufarbeitung in betroffenen Organisationen. Dazu werden im Anschluss an deutschsprachige wie internationale Forschungsbefunde die Bedingungen der Ermöglichung und Verhinderung von (sexualisierten) Gewaltkonstellationen mit Fokus auf die evangelischen Einrichtungen und Kirchengemeinden herausgearbeitet. In drei Fallstudien aus dem Feld der Diakonie wie der verfassten Kirche wird anschließend die bisherige Praxis der Aufarbeitung in unterschiedlichen Bereichen systematisch untersucht. Auf Basis beider Untersuchungsebenen werden abschließend Konsequenzen für die zukünftige Gestaltung der organisationalen Aufarbeitung und die notwendige Prävention sexualisierter Gewalt gezogen
Kontakt: Bergische Universität Wuppertal/Prof. Dr. Fabian Kessl und Freie Universität Berlin/Dr. Friederike Lorenz; fabian.kessl(at)uni-wuppertal.de
Die Perspektive des Teilprojekts C liegt in der unmittelbaren Bezugnahme auf das Erleben und Empfinden von Menschen, die innerhalb des Verantwortungsbereichs der evangelischen Kirche und Diakonie Betroffene_r von sexualisierter Gewalt wurden. Um das Spektrum von belastenden Erfahrungen abzubilden, wird die Studie mehrere Differenzierungsdimensionen in Augenschein nehmen: (a) unterschiedliche Gewaltformen (b) unterschiedliche Betroffenen-Täter_innen-Konstellationen, (c) unterschiedliche institutionelle Settings, innerhalb derer Gewalt ausgeübt wurde, (d) unterschiedliche historische Phasen, in denen (sexualisierte) Gewalt ausgeübt wurde und in denen Aufdeckung und Aufarbeitung initiiert oder verhindert wurden. Ziel ist die multiperspektivische Rekonstruktion von Fällen (sexualisierter) Gewalt und des institutionellen Umgangs mit diesen aus der Perspektive von sexualisierter Gewalt betroffener Menschen. Dabei soll eine möglichst heterogene Bandbreite von Gefährdungsszenarien und Betroffenheitskonfigurationen über verschiedene institutionelle Milieus hinweg abgebildet werden. Im Zentrum steht dabei die Perspektive Betroffener.
Kontakt: IPP München/Helga Dill und Dr. Peter Caspari; dill(at)ipp-muenchen.de, caspari(at)ipp-muenchen.de
Das Teilprojekt D: Die Perspektive Betroffener auf Strukturen der evangelischen Kirche und deren Nutzung durch Täter*innen fokussiert ebenso wie die anderen Teilprojekte auf die Identifizierung täterschützender Strukturen innerhalb der evangelischen Kirche und in diesem Zusammenhang auch auf die Analyse der Merkmale von Beschuldigten in Fällen von sexuellem Missbrauch innerhalb kirchlicher oder diakonischer Institutionen. Primäres Ziel ist es, die Verknüpfung zwischen täterschützenden Strukturen und individuellen Charakteristika von Beschuldigten vor dem spezifischen Hintergrund der evangelischen Kirche in einer interdisziplinär sexualwissenschaftlichen Perspektive vor allem aus Sicht der Betroffenen zu untersuchen. Die obigen Fragestellungen werden in drei Teilschritten bearbeitet: Im ersten Teilschritt werden halb-strukturierte Interviews mit Betroffenen durchgeführt, durch die täterschützende Strukturen aus Sicht der Betroffenen herausgearbeitet werden können. Im zweiten Teilschritt erfolgt eine Onlinestudie, an der Betroffene sexualisierter Gewalt im Kontext der evangelischen Kirche nach öffentlicher Bekanntmachung anonym teilnehmen können und bei der sie in einer quantitativen Befragung zu ihren Erfahrungen im Vorfeld sowie bei der Tat/den Taten, insbesondere aber nach der Tat/den Taten befragt werden. Im dritten Teilschritt werden ergänzend halb-strukturierte Interviews mit Beschuldigten geführt.
Kontakt: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf/Dr. Safiye Tozdan und Prof. Dr. Peer Briken; s.tozdan(at)uke.de
Das Teilprojekt E: Perspektive „Kennzahlen und Umgang“ hat die Analyse des quantitativen Ausmaßes der stattgefundenen sexualisierten Gewalt im Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland zum Ziel. Dabei geht es neben der Ermittlung von Kennzahlen zur Häufigkeit um quantitative Ergebnisse zu Täter*innen, Betroffenen, Tatkomplexen und Tathandlungen. Weiterhin wird der Umgang der Institution mit Fällen sexualisierter Gewalt systematisch erfasst. Die ermittelten Daten aus dem Aktenmaterial der EKD, der Landeskirchen und der diakonischen Werke werden dabei auch Rückschlüsse auf spezifische Risikokonstellationen, die sexualisierte Gewalt begünstigt haben, erlauben und tragen aus einer Aktenperspektive Erkenntnisse zu möglichen spezifische Strukturen und Dynamiken, die sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche begünstigen oder erschweren, bei.
Kontakt: Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim/Prof. Dr. Harald Dressing und Universität Heidelberg/Prof. Dr. Dieter Dölling; harald.dressing(at)zi-mannheim.de
Beteiligungsmöglichkeiten
Über die Forschungsfragen hinaus ist es Ziel des Forschungsverbundes ForuM Partizipation von Menschen mit Gewalterfahrungen im Raum der evangelischen Kirche und Diakonie an dem Gesamtvorhaben zu ermöglichen und durch eine evangelisch-interne und öffentliche Wissenschaftskommunikation auch übergeordnete Fragestellungen nach Partizipation, evangelischen Spezifika und systematischen Folgerungen zu diskutieren. Weitere Informationen finden Sie in den nächsten Monaten unter www.forum-studie.de.
Ansprechpartner*innen
Professor, Soziale Arbeit (F5SA)
Raum: 3C.2.04
Blumhardtstr. 2
30625
Hannover