Semesteraufgabe war die Erstellung von Porträts einer Person oder einer Gruppe und die Begründung dafür, warum diese Menschen in den Augen der Studierenden Heldinnen oder Helden sind oder warum nicht. Die Umsetzungen erfolgten in frei gewählten Bildsprachen als Einzelbild, Bildpaar, Triptychon, Bildstrecke oder Video. Dabei reflektierten die Studierenden nicht nur die abzubildenden Personen, sondern auch die Erstellung der Porträts. Denn wie Roland Barthes feststellte: „Das photographische Porträt ist ein geschlossenes Kräftefeld. Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.“*
Was als Semesterarbeit begann, ist seit dem 07. März in einer Ausstellung im Lokschuppen Rosenheim zu sehen. Bis zum 15. Dezember sind die Arbeiten von Armina Ahmadinia, Sophie Boyer, Tetyana Chernyavska, Noemi Ehrat, Deliah El-Chehade, Henryc Fels, Jasper Hill, Lennart Holste, Yann Kanngiesser, Ben Kümmel, Lucas Nguyen, Bahriye Tatli und Marius Zweifel für ein Jahr dort ausgestellt.
*Roland Barthes, Die helle Kammer, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main1985; Seite 22.
Weitere Informationen:
https://www.lokschuppen.de/heldinnen-helden/ueber-die-ausstellung
Die ausgestellten Arbeiten:
Mahatma Gandhi
Lennart Holste, *1995, Walsrode
„2015 enthüllte der indische Premierminister Modi eine Gandhi-Statue mitten in Hannover. Doch das Heldenbild Gandhis bröckelt. So gab er Frauen die Mitschuld an Vergewaltigungen, weil sie nicht stark genug seien, sich zu wehren. Zudem prangerte er zwar die Unterdrückung der Unberührbaren an, verweigerte ihnen aber ein politisches Mitspracherecht. Für mich zeigt sich, dass auch der größte Held, der internationale Anerkennung genießt und idealisiert wird, nicht fehlerfrei ist.“
Die Drag Queen
Armina Ahmadinia, *1989, Kelachay (Iran)
„Najib Faizi wurde in der konservativen Gesellschaft Afghanistans wegen ihrer anderen sexuellen Orientierung von ihrer Familie und in der Schule abgelehnt. Nach vielen Strapazen gelang es ihr, nach Deutschland zu kommen, wo sie als erste afghanische Drag Queen ihre Videos veröffentlichte. Darin geht es auch um Frauenrechte im Iran. Für mich ist Najib eine große Heldin, die voller Hingabe und zudem unter Aufgabe ihrer Sicherheit und ihrer Heimat, so vieles gibt, um eine bessere Welt zu schaffen.“
Die Leiterin einer Abtreibungsklinik
Noemi Ehrat, *1996, Zürich
„2022 eröffnete die niederländische Ärztin Gabie Raven eine Abtreibungsklinik in Dortmund. Sie betreibt bereits zwei Kliniken in Rotterdam und in Roermond. Den neuen Standort wählte sie, weil viele Frauen wegen mangelnden Zugangs zu entsprechenden Ärzt*innen für einen Schwangerschaftsabbruch aus Deutschland ins Nachbarland fuhren. Hassbriefe und Beschimpfungen gehören zum Alltag von Gabie und ihrem Team. Sogar aus dem Ausland reisen Abtreibungsgegner*innen an, um vor ihrer Klinik zu protestieren.“
Die Lebensmittelretter
Henryc Fels, *1991, Singen (Hohentwiel)
„Wer in Deutschland einen Container auf einem fremden Grundstück öffnet, um noch genießbare Lebensmittel zu retten, macht sich doppelt strafbar: Hausfriedensbruch und schwerer Diebstahl. Trotz der drohenden Kriminalisierung gibt es aber eine gut organisierte Bewegung von Menschen, die sich diesem Unrecht entgegenstellen. Ich habe drei Protagonisten begleitet. Sie sind für mich Helden, weil sie unter großem persönlichem Risiko entsorgte Lebensmittel retten und an andere Menschen verteilen.“
Der Soldat und die Mutter
Tetyana Chernyavska, *1979, Kiew
„Der Unteroffizier Maksym Abramov (25) wurde 2022 in Bachmut von Russen schwer verletzt. Nach Krankenhausaufenthalten erholte er sich in Hamburg und kehrte dann als Geistlicher an die Front zurück, um ‚die Seelen seiner Kameraden zu retten’, wie er sagt. Nach dem Krieg wollen seine Frau und er Kinder adoptieren, die ihre Eltern verloren haben. Solche Soldaten und Soldatinnen stehen symbolisch für die Stärke und den Willen des ukrainischen Volks. Es ist wichtig, ihnen Anerkennung zu zollen.“
„Meine Mutter wurde im Zweiten Weltkrieg geboren und später zur Ingenieurin ausgebildet. Nach Ende der Sowjetunion verlor sie ihre Arbeit, damit auch ihre Lebensgrundlage. Sie musste ihre Rolle in der Gesellschaft völlig neu definieren. Hoffnung, Enttäuschung, Humor, Angst, Zuversicht, Stolz: Diese Gefühle und Werte lernte ich von ihr. Sie ist das Vorbild einer starken Frau, die Nächstenliebe, zudem bedingungslose Liebe für mich, in ihrem Herzen trägt. Das alles macht sie für mich zur Heldin.“
Der Politiker
Sophie Boyer, *1992, Emsbüren
„Insbesondere vielen Männern fällt es noch immer schwer, ihre eigenen psychischen Leiden anzuerkennen und Hilfe zu suchen. Kevin Hönicke, SPD-Politiker und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Berlin-Lichtenberg, ging Anfang 2023 mit seiner Depression an die Öffentlichkeit. Er widersetzt sich einem toxischen Männlichkeitsbild, indem er seine vollkommene Verletzlichkeit im familiären und beruflichen Umfeld offenlegte. Dadurch zeichnet er sich für mich als Held aus.“
Die Nazigegnerin
Jasper Hill, *2003, Heidelberg
„Irmela Mensah-Schramm, eine 78-jährige Aktivistin für Menschenrechte, engagiert sich seit fast 40 Jahren gegen rassistische und antisemitische Aufkleber und Graffiti in ganz Deutschland. Durch ihre Bemühungen wurden mehr als 140.000 Hassbotschaften entfernt, die sie in ihrem Zuhause in Berlin-Wannsee dokumentiert hat. Sie erfährt Anerkennung, ist zugleich aber Feindbild der Neonazi-Szene, bekommt Hassbotschaften (sogar mit Hakenkreuz) und Morddrohungen, selbst körperlich wird sie angegriffen.“
Der unbekannte Held
Marius Zweifel, *1993, Glarus (Schweiz)
„Alle Menschen können zu Held*innen werden. In meinen Fotos erscheinen sie anonymisiert. Statt der Personen sind nur deren Silhouetten zu sehen. Darin steht der Begriff „Held“ als Wiederholung in unterschiedlichen Sprachen geschrieben. Durch die Anonymisierung wird die einzelne Person nicht mit Heldentum behaftet, sondern es bleibt der*dem Betrachter*in überlassen, sich ihr*sein eigenes Bild zu machen – und sich in ihre*seinen eigene*n Held*in hineinzudenken. Und vielleicht wird man selbst von jemandem hineingedacht.“
Der Fußballverein
Ben Kümmel, *1998, Aachen
„Ein Fußballverein tut unglaublich viel für das Zusammenkommen von ganz verschiedenen Menschen. Fußball, da braucht es einfach nur Herz und Leidenschaft! Wie beim SV Borussia Hannover, den ich ein paar Tage lang begleitet habe. Der Verein und seine Mitglieder sind meine Held*innen. Jedes Wochenende, egal, ob bei Regen oder Hitze, sind sie auf dem Platz. Es wird geschrien, geweint, gehasst und geliebt, jubiliert und still ertragen, Respekt durch einen Augenkontakt oder den Handschlag bewiesen.“
Die Modeschöpferin
Bahriye Tatli, *2001, Hannover
„All Amin (Künstlername Haramwithsugar) hat sich mit ihrem Label ‚Haram Official’ auf das Upcycling von Sneakers spezialisiert. Die Berliner Designerin mit kurdischem Migrationserbe ist für mich eine Inspiration, weil sie mir als Person mit ebenfalls kurdischem Hintergrund das Gefühl gibt, dass es in Ordnung ist, mein Interesse für Mode zum Ausdruck zu bringen. Fotos von Menschen, die ihre Designs mit traditionellen Trachten kombinierten, ließen mich erstmals sogar stolz auf meine kurdische Identität sein.“
Die Seglerinnen
Yann Kanngiesser, *2001, Straßburg (Frankreich)
„Seit Kindertagen bin ich fasziniert vom Segeln, und seit langem verfolge ich mit Begeisterung die Wettkämpfe der Weltelite. Dabei habe ich lnga-Marie Hofmann und Catherine Bartelheimer kennengelernt, die gemeinsam in der olympischen Bootsklasse 49er FX segeln und Deutschland bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris vertreten möchten. Für das Training alles hinter sich zu lassen und dauerhaft den Fokus auf die Ziele zu behalten, erforderte eine ungeheure Disziplin und Ausdauer.“
Die Jugendlichen und ihre Rechte
Lucas Nguyen Tuan-Anh, *2002, Wien
„Ende Februar 2023 reichten zwölf Kinder und Jugendliche in Österreich eine Klage gegen den Staat ein. Die Kinderrechte seien im aktuellen Klimaschutzgesetz nicht ausreichend berücksichtigt, das müsse geändert werden. Die Jungen und Mädchen, hier einige in ihren Zimmern, müssen sich unzähligen Hasskommentaren und Interviews stellen, die alle ignorieren, dass diese jungen Menschen eigentlich die Verantwortung der Erwachsenen übernehmen, um ihre eigene Zukunft zu sichern.“
Die Pflegerin
Deliah El-Chehade, *1999, Bremen
Jana ist seit 2019 Pflegerin von Marie im westfälischen Ibbenbüren. Hier hält sie den Inhalator, den die 15-jährige selbst nicht festhalten kann. ´Schöne Momente sind immer, wenn sie mit ihrem Tablet spielt und uns auffordert, mit ihr zu tanzen´, sagt Jana, eine von fast 450.000 ambulanten Pflegern und Pflegerinnen in Deutschland. Zu Beginn war besonders die nächtliche Beatmung von Marie eine Herausforderung, und vor allem ist es wichtig, in Notfallsituationen kühlen Kopf zu bewahren.“